Am 9. November 1989 befand ich mich seit bereits einigen Monaten in der Kleinstadt Niles im US-Bundesstaat Michigan nahe der Grenze zu Indiana und besuchte dort als 15-jähriger die 11. Klasse (Senior Class) der Brandywine High School.
Mit viel Glück und großer Unterstützung meiner Klassenlehrerin, Frau Bostelmann, hatte ich einen der begehrten Plätze im „Parlamentarischen Patenschaftsprogramm“ ergattert. Der damalige Bundestagsabgeordnete für Hamburg-Mitte, Freimut Duve, hatte die Patenschaft für meinen fast einjährigen USA-Aufenthalt übernommen.
Austauschschüler sind Botschafter ihres Heimatlandes (ich nenne sie gern „diplomatische Basis“) und gerade PPP-Teilnehmer erhalten vor ihrer Reise auf entsprechenden Seminaren einen Auffrischung in deutscher Geschichte und Gegenwart und werden gewissenhaft auf ihre Aufgabe vorbereitet. Doch das, was am 9. November 1989 passierte, war zu unvorstellbar, um darauf vorbereitet werden zu können.
Während meines Austauschjahres gab es viele merkwürdige Situationen. So begrüßte mich unser Politiklehrer und Ex-Mitglied der US-Marines, Mr. Monette, mit einem „Heil Hitler“, welches er mir bei ausgestreckten Arm in der ersten Stunde zum Semesterbeginn entgegen schmetterte. „I’m not a nazi!“ sagte ich. „But I am!“ antwortete er. Dass er nicht wirklich ein Nazi war, stellte sich in den folgenden zwei Semestern heraus aber auf diese Art von Humor wurde ich auf den Austauschseminaren dann doch nicht vorbereitet.
An die Frage „kommst Du aus Ost- oder Westdeutschland?“ hatte man sich als deutscher Austauschschüler relativ schnell gewöhnt; von demütigenden Vorführungen von Wasserspültoiletten ganz zu schweigen. Gefühlte 2/3 der Amerikaner gingen davon aus, dass wir in Deutschland auf die Straße machten. Für fast alles hatte ich leicht verständliche und diplomatische Antworten parat. Sprachlos war ich allerdings, als eine Schulkameradin aus der Junior Class zu mir sagte, ich möge sie doch bitte unterrichten, sollte ich mal mit ihrem Freund allein sprechen. Dieser sei nämlich bei der Navy und sei verpflichtet, es seinem Vorgesetzten zu melden, sollte er sich mit Kommunisten unterhalten. Dies könnte er möglicherweise vergessen und so seine unehrenhafte Entlassung riskieren.
Im Vorgarten meiner Gasteltern befand sich eine riesige Satellitenantenne, mit der sich zahlreiche Fernsehprogramme empfangen ließen – nur leider keine deutschen. Allerdings gab es nach der Wende immerhin einen Universitätskanal, der für seine Sprachstudenten wöchentlich eine Folge der „heute“-Nachrichten sowie der „Aktuellen Kamera“ sendete.
Ein Onkel hatte mir vor der Reise einen kleinen Weltempfänger geschenkt, mit dem ich nachts ein kleines Zeitfenster nutzen konnte, um das Radioprogramm der „Deutschen Welle“ in erbärmlicher Klangqualität zu empfangen aber als Schüler nachts ständig Radio zu hören ist nicht wirklich praktikabel. Deswegen nutzte ich diese Möglichkeit auch nur bei sehr wenigen Gelegenheiten.
Weiterhin bekam ich alle paar Wochen einen Informationsbrief der Bundesregierung per Post zugeschickt. Dieser bestand aber hauptsächlich aus (langweiligen) Pressemitteilungen des Kohl-Kabinetts sowie aus Fußballergebnissen.
Viel mehr Möglichkeiten, an Nachrichten aus der Heimat zu kommen, gab es in der Internet-Vorzeit leider nicht. So bezog ich meine Nachrichten hauptsächlich von CNN, den Zeitschriften „Times“ und „Newsweek“, welche den Schülern kostenlos zur Verfügung gestellt wurden sowie aus der Tageszeitung „South Bend Tribune„, deren Abonnent ich für ein Jahr gewesen bin.
So dauerte es bis zum Morgen des 10. November 1989, dass ich von den unvorstellbaren Ereignissen erfuhr.
„Carsten, hast du schon gehört, dass man in Berlin die Mauer eingerissen hat? Man tanzt dort auf der Straße!“ begrüßte mich meine Klassenkameradin und Freundin Jennifer, als ich den Klassenraum zur zweiten Stunde Politikunterricht betrat. Hatte ich nicht. Und ich glaubte es ihr sofort, denn Jennifer, die meinen schwarzen Humor schätzte, war selbst zu jeglicher ironischen oder hintergründigen Bemerkung unfähig. So konnte ich an diesem Tag den Schulschluss kaum erwarten, um mich endlich vor den Fernseher setzen zu können.
Meine Theaterlehrerin Ms. Pritchard befürchtete länger anhaltende, bürgerkriegsähnliche Zustände in Deutschland und bot mir daraufhin ihre Unterstützung bei der Beantragung politischen Asyls an. In den folgenden Wochen gelang es mir dann doch, ihre Befürchtungen zu zerstreuen.
Ich hatte noch ein halbes Jahr USA vor mir und nutzte jede Gelegenheit, die spannenden Ereignisse zu verfolgen, meinen amerikanischen Freunden Fragen zu beantworten und Vorurteile zu relativieren, denn die Titelseiten dieser Wochen zeichneten durchaus auch ein bedrohliches Bild des zukünftigen Deutschlands. Die Magazine berichteten nicht nur von einer möglichen „Renazifizierung“ sondern sahen auch den Status der USA als Supermacht bedroht, indem sie in Zahlenspielen darlegten, dass ein gemeinsames Deutschland in Zukunft nicht nur die meisten Olympiamedallien abräumen und die größte Armee haben sondern auch jedes andere Land der Erde wirtschaftlich platt machen würde.
Als junger Mann eine relativ lange Zeit fern der Heimat zu verbringen ist allein schon spannend genug. Es hätte für mich jedoch kein besseres Jahr geben können, diese Reise zu unternehmen. Nicht nur der Mauerfall und die darauf folgenden Entwicklungen in Deutschland sondern auch Ereignisse wie das Ende der Apartheid und die Freilassung Nelson Mandelas beflügelten die Hoffnungen auf eine bessere Welt.
Im Sommer 1990 kehrte ich schließlich nach Hamburg zurück und begann, mein Heimatland neu kennenzulernen.